Historisches

Der Schock des „Anschlusses“

Schon vor 1938 war es in Österreich bekannt gewesen, dass Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich systematisch diskriminiert sowie öffentlich angegriffen und verhöhnt wurden. Mit der Verfolgungswelle, die ab dem „Anschluss“ im März 1938 praktisch über Nacht über sie hereinbrach, hatten die meisten Betroffenen jedoch nicht gerechnet. Massenhafte Übergriffe, Demütigungsrituale, Beraubungen, Verhaftungen, Folter, Verschleppungen in Konzentrationslager in Kombination mit einer wahren Flut an rechtlichen Diskriminierungen waren ein tiefer Schock, der noch Jahrzehnte später in den Berichten von ZeitzeugInnen zum Ausdruck kam. Die Erfahrung, von einem Tag auf den anderen völlig rechtlos zu sein, ungestraft beleidigt, geschlagen und beraubt werden zu können, ohne auf den Schutz der Polizei und anderer öffentlicher Stellen hoffen zu können, veranlasste weite Teile der jüdischen Bevölkerung innerhalb weniger Monate zur Flucht. 1)
1) Peter Schwarz/Siegwald Ganglmair, Emigration und Exil 1938-1945, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 817-849, 817.
Quelle: http://www.juedischewieden.at/der-schock-des-anschlusses-und-die-entscheidung-zur-flucht/
Autor: Matthias Kamleitner

Die „Anschluss“ Pogrome

In Wien war die NS-Machtübernahme von Beginn an von Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung sowie deren Demütigung und Beraubung im Zuge sogenannter „wilder Arisierungen“ begleitet. 4) Bereits in der Nacht zum 12. März 1938 sahen viele Nazis in der Stadt ihre Gelegenheit gekommen. Im Zuge eigenmächtiger Hausdurchsuchungen drangen sie in Wohnungen ein, deren jüdische BewohnerInnen nun von der Polizei nicht mehr geschützt wurden. Sie „beschlagnahmten“ was ihnen gefiel 5) und gingen mit außerordentlicher Brutalität vor.
Jüdische Wohnungen, Lokale und Geschäfte wurden mit antisemitischen Diffamierungen aller Art beschmiert, 6) ihre Fensterscheiben eingeschlagen und die Einrichtung – so sie nicht entwendet wurde – vielfach zertrümmert und auf die Straßen geworfen. Jüdinnen und Juden jeden Alters wurden öffentlich verhöhnt, misshandelt und zur Verrichtung erniedrigender Handlungen gezwungen. Besonders entwürdigend für die Opfer waren die als „Reibpartien“ bezeichneten Aktionen: Jüdische Frauen, Männer und Kinder wurden gezwungen, 7) speziell Propagandaparolen, die kurz zuvor noch im Auftrag der Schuschnigg-Diktatur angebracht worden waren, „zur ‚Hetz’ eines gaffenden Publikums […] mit scharfer Lauge und bloßen Händen“ 8) von den Straßen der Stadt zu entfernen.

4) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 71.; Safrian, Beschleunigung der Beraubung und Vertreibung, in: Goschler/Lillteicher (Hg.), „Arisierung und Restitution“, 61–89, 70.
5)   Vgl. Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87; Safrian, Eichmann und seine Gehilfen, 29–30.
6) Vgl. Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87
7) Vgl. Botz, Nationalsozialismus in Wien, 127; Safrian/Witek, Und keiner war dabei, 24.
8) Häusler, Das Jahr 1938 und die österreichischen Juden, in: DÖW (Hg.), „Anschluß“ 1938, 85–92, 87.

Quelle: http://www.juedischewieden.at/die-anschluss-pogrome/
Autor: Matthias Kamleitner

Novemberpogrom, Raub und die Folgen

Die Enteignung der Jüdinnen und Juden wurde seitens der NS-Behörden bis November 1938 durch immer neue Verordnungen und Gesetze weiter vorangetrieben.
Während des Novemberpogroms am 9. und 10. November 1938 wurden Geschäfte und Wohnungen von Jüdinnen und Juden u. a. von SA-Trupps demoliert und geplündert. Bei „Hausdurchsuchungen“ wurden Vermögenswerte „beschlagnahmt“.
…Obwohl der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich Plünderungen untersagt hatte, raubten und brandschatzten NS-Anhänger, vor allem Angehörige der SA, in Wien ca. 5.000 Geschäfte oder Betriebe, die sie zuvor mit Jüdinnen und Juden in Verbindung hatten bringen können. Die Ausschreitungen richteten sich nicht nur gegen Menschen, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Volljuden“ galten, sondern auch gegen sogenannte „Mischlinge“ und „arische“ PartnerInnen, welche in „Mischehen“ lebten. 3)
Am Morgen des 10. Novembers 1938 ließ der Wiener Gauleiter Odilo Globocnik4) alle verbliebenen Betriebe jüdischer BesitzerInnen schließen und befahl diesen die Abgabe der Schlüssel bei der Polizei. Wohnungen von bereits geflüchteten Jüdinnen und Juden, welche nun verlassen waren, sollten versiegelt werden. „Bei Wohnungen und Geschäften, wo die Voraussetzung der Sicherung der Ware nicht mehr gewährleistet ist, hat dies sofort in entsprechende Räume bei den Kreis- oder Ortsgruppenleitungen zusammengetragen zu werden.“ 5) Nach einer Zusammenstellung der gesperrten jüdischen Geschäfte in Wien und deren arische Gefolgschaft vom 22. November 1938 wurden in den vorangegangenen zwei Wochen 4.862 Betriebe auf diese Weise gesperrt. 6)
Das Novemberpogrom beschleunigte direkt durch die Plünderungen und indirekt durch die Gesetze die völlige Enteignung der Jüdinnen und Juden und entzog ihnen nun endgültig ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Durch die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben 7) vom 19. November 1938 wurde Jüdinnen und Juden untersagt, Geschäfte zu betreiben und es waren nur mehr „Zwangsarisierungen“ unter staatlicher Kontrolle möglich. Mit der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens 8) vom 3. 12. 1938 mussten alle jüdischen EigentümerInnen ihre Betriebe in einer bestimmten Frist „verkaufen“ oder „liquidieren“. Beide Gesetze markierten den Abschluss im Enteignungsprozess.

3) Als „Mischlinge“ kategorisierten die Nationalsozialisten in der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935 jene Personen, bei denen ein oder beide Großelternteile als „Volljüdin“ oder „Volljuden“ definiert wurden. Wurde bei einer Ehe eine Ehepartnerin oder ein Ehepartner als „jüdisch“ eingestuft, galt diese als „Mischehe“. Im Unterschied zu Jüdinnen und Juden waren diese Personengruppen nicht im selben Ausmaß von den Verfolgungsmaßnahmen betroffen, dennoch war der wachsende Verfolgungsdruck im Alltag für sie spürbar. Vgl., RGBl. I 1935, 1333–1334, Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz; Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 2002; Michaela Raggam-Blesch, Die Situation weiblicher „Mischlinge“ und „Geltungsjüdinnen“ während der Zeit des NS-Regimes in Wien, in: Linda Erker/Alexander Salzmann/Lucile Dreidemy/Klaudija Sabo (Hg.), Update! Perspektiven der Zeitgeschichte, Zeitgeschichtetage 2010, Innsbruck–Wien–Bozen 2010, 604–611; Michaela Raggam-Blesch, „Mischlinge“ und „Geltungsjuden“, in: Andrea Löw/Doris L. Bergen/Anna Hájková (Hg.), Alltag im Holocaust, München 2013, 81–97.
4) Globocnik wurde später aufgrund allzu offensichtlicher Inkompetenz und Korruption abgezogen und gehörte dann zu den zentralen Personen des Massenmordes im von Deutschen Reich besetzten Polen.
5) ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2010/0.
6) Vgl. ÖStA, AdR, ZNsZ, RK Materie, 2160/0 Band I.
7) GBfLÖ, 584/1938, Bekanntmachung der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. 11. 1938.
8) GBfLÖ, 633/1938, Bekanntmachung der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. 12. 1938.

Quelle:http://www.juedischewieden.at/novemberpogrom-raub-und-die-folgen/
Autorin: Jutta Fuchshuber